Sonderausstellung

 Brückenhofmuseum

Großmutter war immer die verschwundene Oma
Jüdisches Leben:
Carola de Vries Robles, Enkelin von Olga Süskind, spricht über Frauen der Familie Süskind - Die Süskinds wohnten in Oberdollendorf

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Olga de Vries mit ihrem Mann Martyn, den sie 1889 heiratete. Damals zog sie in die Niederlande.
Repro: Brückenhofmuseum

Von Roswitha Oschmann

Oberdollendorf.
Carola de Vries Robles zieht den Ring vom Finger. "Das ist der Verlobungsring meiner Großmutter. Ich halte ihn sehr in Ehren." Viel mehr ist der Holländerin nicht geblieben von Olga de Vries, geborene Süskind.

"Einen Lederkoffer habe ich noch, ein Bettelarmband aus Silber und eine Handarbeit." Auf diese Stickprobe fällt der Blick von Carola de Vries. Das Stück Stoff mit den bunten Fäden liegt im Kleinen Jüdischen Lehrhaus in Oberkassel in einer Vitrine, gleich neben Fotos, die Olga de Vries mit ihrem Mann Martyn und ihrer kleinen Tochter Adele zeigen.

Im Ausstellungsraum spricht Carola de Vries Robles über die Frauen der Familie Süskind, die im 17. Jahrhundert nach Oberdollendorf gelangte. Sie ist eigens aus Amsterdam angereist ins Siebengebirge, wo ihre Vorfahren einst Heimat gefunden hatten.

Es waren große Familien, wie der Stammbaum ausweist. Sie wohnten an der Falltorstraße, an Süskinds Gässchen oder an Cahns Berg. Süskinds und Cahns waren es hauptsächlich, die sich in Oberdollendorf niedergelassen hatten. Sie haben viel untereinander geheiratet und trieben Handel mit Fellen, gegerbtem Leder und Getreide. Auch das Weingut Sülz war zeitweise in ihrem Besitz.

Überlebt haben nur wenige. Carola de Vries ist eine der Letzten aus der Familie Süskind. Hinter dem Namen "Olga" ist "KZ 1943" vermerkt und der 16. September 1872 als ihr Geburtsdatum. Sie war demnach drei, als die Synagoge in Oberdollendorf eingeweiht wurde, eine blühende Zeit. Tiefe Nacht indes, als das Bethaus der Juden vom 10. auf den 11. November 1938 gebrandschatzt und wenige Monate später dem Erdboden gleich gemacht wurde.

"Großmutter haben sie in Holland weggeräumt", sagt ihre Enkelin drastisch. "Großmutter war immer eine verschwundene Großmutter." Carola de Vries hat sie nicht kennengelernt. Sie kam erst 1946 in Amsterdam zur Welt, nach dem Inferno der Nazizeit. Ihr Bruder Eric wurde 1944 im KZ geboren. Ihre Schwester Virgenie ist Jahrgang 1932, ein Zeitpunkt, als in Oberdollendorf noch alles in gewohnten Bahnen ablief, die Juden im Ort sehr integriert waren und ein Süskind Schützenkönig werden durfte.

Olga wohnte damals längst in den Niederlanden, sie hatte 1889 dorthin geheiratet. "Sie hat sich ihren Mann selbst ausgesucht", erzählt Carola de Vries nun. Seine Familie handelte mit Textilien.

Mit dem Ortswechsel wechselte die Großmutter auch in eine andere Kultur. Sie ließ das bürgerliche Leben der Landjuden zurück und tauchte ein in eine Schicht, in der ihr noch mehr Bildungsmöglichkeiten offen standen. Das hatte sie sich immer gewünscht.

"Sie besuchte Konzerte des Concertgebouw-Orchesters und Salons, gehörte einer Malervereinigung an und hatte Personal. Sie liebte Kurorte, zu denen sie mit vielen Koffern und Hutschachteln aufbrach. Zurück kam sie mit kleinen Mokkatässchen und böhmischen Gläsern", zeichnet Carola de Vries ein Bild von einer Frau, das zu dem gerahmten Foto der eleganten Dame im weißen Kleid und mit den schwarzen, hochgesteckten Haaren in der Vitrine passt.

Eine ziemlich unbeschwerte Epoche blieb ihr vergönnt. Als Olgas Mann 1931 verstarb, begann eine schwere Phase, aus ökonomischen Gründen. Ihre Tochter Adele wollte studieren, heiratete einen Arzt, der sein Studium noch nicht beendet hatte, als Virgenie schon da war. Die beiden Frauen fochten stets einen Kampf miteinander aus, Mutter contra Tochter. "Eigentlich sollte ich Olga heißen, aber meine Mutter wollte das nicht", berichtet Carola de Vries.

Sie ist ebenso schmal wie die Großmutter. Ihr werden Eigenheiten nachgesagt, die auch Olga kennzeichneten. Die Großmutter, die eines Tages nicht mehr da war, als Virgenie sie aufsuchen wollte. Bald darauf wurden auch Adele und ihre Tochter bei einer Razzia abgeholt. Sie entgingen dem Weg ins Gas.

"Nach dem Krieg war die Situation kompliziert. Abwesende waren anwesend. Meine Mutter verstummte. Sie sprach von der Nazizeit als einer ,großen Pause'. Sie traute keinem mehr und glaubte, ihre Mutter könnte zurückkommen." Die Rot-Kreuz-Nachricht von 1952 machte jede, auch noch so undenkbare Hoffnung zunichte. Olga kam in Sobibór (Polen) um. "Großmutter muss ein Grab haben", bat Carola de Vries irgendwann ihre Mutter. "Es war wichtig, ihr einen Platz zu geben", erläutert sie ihre Intention.

Bevor Adele de Vries 1998 mit 93 Jahren verstarb, fragte sie ihre Tochter: "Denkst Du an mich, wenn ich tot bin?" Der Vortrag spricht Bände.

Adele hatte ihre jüngste Tochter mit drei taufen lassen.
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Foto: Eli Harnik

Als sich Carola de Vries später mit dem Familienschicksal befasste, kehrte sie ins deutsch-jüdische Erbe zurück. "Ich bin dankbar, dass ich diese Wurzeln habe", betont Carola de Vries in gutem Deutsch. "Es ist die Sprache meiner Seele." Olga Süskinds Enkelin hat sich einer Reformgemeinde angeschlossen.

Ihren Besuch des Jüdischen Museums in Berlin vergleicht sie mit einem Bad. "Die Kratzer sind nicht mehr auf meiner Seele." Sie fühlt sich wie die Großmutter dem Satz verbunden: "Das Leben ehren." Aber: Sie und ihre Geschwister haben keine Kinder, nicht die traditionelle Familiensituation wie in Oberdollendorf. "Für Mutter war die Großfamilie ein Paradies. Ich habe Geborgenheit und Sicherheit nie erfahren."

Quelle: General-Anzeiger online vom 18.02.2008 

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